Erbarm dich über mich, dann kann ich leben.
Psalm 119,77
Der Psalm 119 ist der längste Psalm der Bibel mit insgesamt 176 Versen. Man könnte fast schmunzeln, denn das Thema dieses Psalms sind die Regeln Gottes für das Leben. Da ist ja die Länge kein Wunder könnte man schelmisch meinen. Der Psalmbeter preist die Regeln, Gebote und Gesetze auf eine tiefgehende Weise. Für ihn sind diese ganzen Regelungen, die Möglichkeit zu leben. Man merkt wie tiefernst es ihm damit ist.
Und doch schließt der Psalm mit einem bemerkenswerten Satz: „Ich bin verirrt wie ein verlorenes Schaf; HERR, suche mich, hol mich zurück zu dir!“ Trotz allen Bemühens, trotz aller Ernsthaftigkeit, trotz aller Regelungen ist der Psalmbeter gescheitert und hat sich weit von Gott entfernt.
Dies ist eine Erfahrung, die wir immer wieder machen. Trotz aller guten Regeln, trotz aller guten Vorsätze, trotz aller investierten Kraft – bleibt das Scheitern ein Bestandteil unseres Glaubens und Lebens. Und daher kommt der Psalmbeter zu dem Umkehrschluss: „Ohne dein Erbarmen kann ich nicht leben.“
Ich kennen das auch aus meinem Leben. Trotz aller guten Vorsätze, trotz aller Regeln, trotz aller Kraft tappe ich doch oft selber wieder in die gleichen Fallen meines Lebens. Ich weiß dies vorher schon und ärgere mich trotzdem zutiefst darüber. Und manchmal ist das Scheitern auch mit einem Gefühl der Scham verbunden. Und wieder die bittere Erkenntnis: Du hast es wieder nicht geschafft. Wir alle haben solche Punkte in unserem Leben, mal mehr mal weniger stark. Wie gut, dass wir uns dann an der Erkenntnis des Psalmbeters festklammern können: Ich brauche dein Erbarmen Gott. So heißt es in dem Psalm „Streck deine Hand aus, HERR, um mir zu helfen.“ Ja, guter Gott, reiche auch uns die Hände.
Guter Vater!
Lass mich nicht fallen, obwohl ich so oft versage. Amen.
Andis Gipsbein (Christa Schlüter)
»Weißt du schon? Der Andi hat sich ein Bein gebrochen!«
Diese betrübliche Neuigkeit lief durch die Bankreihen der vierten Klasse, und auch Frau Wörner, die Lehrerin, wurde gleich damit empfangen, als sie das Klassenzimmer betrat. Sie erkundigte sich, wie es passiert sei. Martina, die nur um zwei Ecken von Andreas Braun entfernt wohnte, wusste Bescheid und erzählte: »Also, das war so: Er ist mit dem Klapprad von seiner Mutter gefahren. Das darf er, wenn sie's nicht gerade selbst braucht. Aber da war die Lenkstange nicht ganz festgeschraubt, und er hat's nicht gemerkt. Erst an der Ecke Nikolaus-Lenau-Straße, als es ihn hingehauen hat. Da war es zu spät. - Jetzt hat Andi ein riesiges Gipsbein bis oben hin. Eigentlich sollte er im Krankenhaus bleiben, doch da war alles belegt. Er sagt, so schlimm war's nicht mit den Schmerzen, aber langweilig. Ich werde ihn jeden Tag besuchen; das habe ich ihm versprochen. Ist ja klar.« Damit schloss sie ihren Bericht, und Frau Wörner trug ihr Grüße an den Patienten auf.
Diese Grüße wurden ein paar Stunden später sechsfach ausgerichtet. Gleich nach der Schule gingen Martina und Ralf, Andis Banknachbar, und vier andere Jungen miteinander zu Andi. Sie standen um das Krankenbett und bestaunten das Gipsbein. Ralf klopfte sogar daran: »Klingt hohl«, meinte er, worauf Andi lachend entgegnete:
»Wenn du willst, kannst du mit dem Hammer draufhauen, ich merke nichts.«
Ralf erzählte von seinem Bruder, der im vergangenen Jahr einen Gips am Arm hatte, auf den seine Kameraden Männchen gemalt und ihre Namen geschrieben hätten.
»Dufte!« sagte Andi, »mit Buntstiften müsste das ganz toll aussehen.« Die Idee fand Anklang.
»Jeder schreibt mit einer anderen Farbe«, schlug Martina vor und kramte ihre Schreibmappe aus dem Ranzen. »Ich nehme blau«, sagte sie, »blau ist die Treue. Ich besuche dich alle Tage, darauf kannst du dich verlassen.«
Am nächsten Tag war Wandertag. Die vierte Klasse war dabei besonders gut dran, denn Ralfs Vater gehörte ein Reisebüro, das drei Autobusse unterhielt. In jedem Jahr lud er die Kinder zu einer Fahrt ins Grüne ein. Diesmal kamen auch Frau Wörners Mann und einige Mütter mit. War das ein Hallo in dem Bus! Herr Wörner spielte Gitarre und alle sangen dazu. Die Sonne schien, als sei sie eigens für den Ausflug bestellt. In der Nähe von dem Waldparkplatz, wo sie ausstiegen, lag ein großer Spielplatz mit Blockhütten und Hängebrücken zum Indianerspiel. Es gab einen Trimm- und einen Waldlehrpfad, einen offenen Grill zum Würstchenbraten. Es wurde ein herrlicher Tag!
Als Martina vorm Einschlafen die vielen Erlebnisse überdachte, fiel ihr plötzlich mit Schrecken der Andi ein. Bin ich eine Tüte, den Andi total zu vergessen, beschimpfte sie sich selbst. Sie hatte sich doch so fest vorgenommen, ihn gleich nach der Rückkehr zu besuchen. Morgen hole ich's doppelt nach, zwei Stunden bleibe ich bei ihm - mit diesem Vorsatz schlief sie ein.
Unterdessen lag Andi hellwach auf seinem Krankenlager. Wie soll einer müde sein, der den ganzen Tag still im Bett liegen muss? Außerdem schlief er sonst auf dem Bauch oder auf der Seite, aber das ging nicht wegen des Gipsbeins. Es hing wie ein schwerer Klotz an seiner linken Hüfte und hinderte ihn, sich zu drehen.
Er stellte sein kleines Transistorgerät ein. »Aus der Residenz des Rechts«, meldete sich der Ansager. »Blödsinn! Wer will das hören?« Ärgerlich drehte er an den Knöpfen, aber kein Programm gefiel ihm. Zum Lesen hatte er auch keine Lust. Den halben Winnetou hatte er heute schon konsumiert, das langte. Warum musste ich mir ausgerechnet vor dem Schulausflug das Bein brechen, dachte er. Zwei Tage später wäre es weniger schlimm gewesen. Er tat sich selber leid. Außerdem war er enttäuscht über Martina. Warum war sie nicht gekommen? Ab vier Uhr hatte er gehofft, die Klasse würde vielleicht früher als sonst heimkommen. Alle zehn Minuten hatte er auf die Uhr geschaut. Zwischen fünf und sechs wurde er ungeduldig. Da, halb sieben, klingelte es. Endlich! Doch es war nur die Zeitungsfrau, die kassieren wollte. Nach dem Abendbrot gab er es auf. Seine Mutter versuchte ihn zu trösten:
»Sicher ist es spät geworden, und Martina war zu müde. Nimm es nicht übel. Morgen kommt sie gewiss. So hast du noch etwas Schönes vor dir.«
Mutter hat gut reden, dachte Andi, während er trübsinnig sein bemaltes Gipsbein betrachtete. Morgen! Das waren noch so viele Stunden.
Der folgende Tag war ein Donnerstag. Auf dem Stundenplan standen für den Nachmittag Turnspiele von 2 bis 3 Uhr. Danach wollte Martina zu Andi gehen. »Wer kommt mit auf den Wasen?« fragte Ralf nach dem Sport. Im Stadtgarten waren ein paar Buden aufgebaut, ein Karussell und Boxautos gab es auch, ein kleiner Jahrmarkt. »Also, wer kommt mit?« rief Ralf zum zweiten Mal. Fast alle meldeten sich.
»Ich kann nicht«, sagte Martina, »ich muss zu Andi.« Das sah Ralf ein, aber dann machte er ihr einen Vorschlag:
»Ich komme auch mit, aber vorher gehen wir zusammen eine Stunde auf den Wasen. Den ganzen Nachmittag bleibst du ja doch nicht bei ihm.«
Martina stimmte zu. Andi würde sich freuen, wenn sie Ralf mitbrachte. Ralf fiel immer etwas Lustiges ein. Mit ihm gab's was zu lachen. »O.k.«, sagte sie und gesellte sich zu den ändern.
Zuerst guckten sie beim Karussellfahren zu, dann drängte Ralf zu den Boxautos. Sie mussten lange warten, bis sie an die Reihe kamen. Endlich bestieg er mit Martina ein gelbes Auto mit roten Sitzen. Ralf saß am Steuer und los ging's. »Vorsicht, der schwarze rammt dich!« Martinas Warnung kam zu spät. Jetzt stießen auch noch Doris und Claudia von hinten an. Die beiden waren fest eingekeilt. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder freie Fahrt hatten. Stop! Die Runde war beendet.
»Viel zu kurz«, beklagte sich Martina, aber Ralf rief:
»Ich zahle noch mal.« Er hatte heute seinen großzügigen Tag.
»Habt ihr schon den Deutschaufsatz für morgen gemacht?« wollte Doris wissen.
»Wieso? Der wird doch erst Samstag gebraucht«, sagte Martina erstaunt. Aber das war ein Irrtum. Sie musste sich überzeugen lassen, daß der Aufsatz für morgen aufgegeben war. Dabei hatte Frau Wörner ausdrücklich betont, er zähle fürs Zeugnis.
»Nichts wie nach Hause«, sagte Ralf, als das Boxauto zum zweiten Mal anhielt. Schade, er hätte gerne noch eine dritte Tour spendiert.
Bis zum Abendbrot saß Martina über der Hausarbeit. Als sie endlich damit fertig war, fiel ihr Andi ein. Nun hatte sie wieder den Besuch versäumt. Es war wie verhext!
Am Tag darauf stand Martina am frühen Nachmittag vor Brauns Haustür und klingelte. Sie wartete eine Weile, niemand öffnete. Sie klingelte zum zweiten und schließlich zum dritten Mal, nichts regte sich. Andi hatte sein Zimmer zum Hof hinaus. Vielleicht war Frau Braun ausgegangen? Sie würde an Andis Fenster klopfen. Es lag zu ebener Erde. Aber das Fenster war zehn Zentimeter zu hoch, auch wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, erreichte sie es nicht. Kurz entschlossen zog sie ihren linken Schuh aus. Jetzt reichte sie hinauf. Mit dem Schuh klopfte sie an die Scheibe, rief, aber ohne Erfolg. Sie konnte sich nicht erklären, daß er nicht hörte. Er lag doch mit dem Kopf ganz dicht am Fenster.
Unschlüssig kehrte sie zur Straße zurück. Sie würde bei Meyers im ersten Stock klingeln. Vielleicht hatte Frau Meyer den Schlüssel zur Wohnung von Brauns. Der automatische Türöffner surrte. Kurz darauf stand Martina bei Meyers in der Küche. »Andi ist fort«, erklärte die Frau. Als sie Martinas verständnisloses Gesicht sah, fuhr sie fort: »Du weißt doch, daß Frau Braun berufstätig ist. Für Andis Pflege musste sie sich extra Urlaub nehmen. Das ist nicht gut, habe ich ihr gesagt. Sie braucht ihren Urlaub für ihre Erholung. Ich habe ihr angeboten, nach dem Andi zu schauen, wenn sie tagsüber weg ist, aber das wollte sie nicht annehmen. - Setz dich doch.« Frau Meyer schob Martina einen Stuhl zu, dann berichtete sie weiter: »Heute früh, so gegen elf Uhr, klingelte das Telefon. Ich musste Frau Braun an den Apparat holen. Andis Tante rief an. Schon eine Stunde später hat sie ihn mit dem Auto abgeholt. - Aber was ist denn los? Warum weinst du?« Verwundert schaute Frau Meyer Martina an, der die Tränen über die Wangen liefen. »Es ist tatsächlich die beste Lösung. Die Tante ist den ganzen Tag daheim. Außerdem sind da vier Kinder, so hat er Gesellschaft. Hier war er allein. Er hat dort bestimmt keine Langeweile. Und Frau Braun kann wieder ins Geschäft.« Frau Meyer redete noch eine Weile, aber Martina hörte überhaupt nicht zu. Sie schämte sich.
Es gibt eine Seite mit den alten Losungsandachten:
https://evangelisch-neuss-sued.de/gottesdienste/beten-zuhause