Und denke keiner gegen seinen Bruder etwas Arges in seinem Herzen!
Sacharja 7,10
Zwei Sprichwörter fallen mir spontan zu der Tageslosung ein: „Dem wünsche ich die Pest an den Hals!“ „Das wünscht man selbst seinem ärgsten Feind nicht.“ Beides kenne ich auch gut von mir selbst. Wenn ich wütend bin auf andere Menschen, dann kann ich den Satz der Tageslosung oft nicht einhalten. Besonders dann, wenn ich selbst verletzt worden bin, dann sind meine Gedanken oft finster. Aber manche Schicksalsschläge, von denen mir Menschen berichten, sind so heftig, dass ich sie wirklich niemandem wünschen würde.
Mir kommt Jesu Wort aus dem Lukasevangelium in den Sinn: Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen. Der Anspruch Jesu ist ja noch einmal deutlich größer als der Anspruch des Sacharja. Hier ist nicht die Rede von „nichts Böses wünschen“, sondern von Liebe.
Kann ich das? Will ich das? Puh. Nun Nachfolge Jesu heißt ja nicht, sich die Rosinen rauspicken. Nachfolge Jesu heißt, die Worte Jesu versuchen umzusetzen. Nachfolge Jesu heißt, in seinem Sinne zu leben. Also bleibt mir nichts anderes übrig als es schlicht zu versuchen. Meine Hoffnung ist dreierlei dabei: 1. Ich hoffe, dass Gott mir die Kraft und die Liebe dafür gibt. 2. Ich darf daran scheitern und es dann wieder neu versuchen. 3. Vielleicht verändert ja mein Verhalten den oder die Andere, bringt ihn oder sie ins Nachdenken.
Nur weil Gott die Gewalt nicht mit Gewalt beantwortet hat, können wir heute hoffen. Als sein Sohn hingerichtet wurde, hat er nicht mit einem Strafgericht geantwortet, sondern mit der Botschaft der Liebe. Und nur deshalb können wir Jesus heute nachfolgen.
Guter Vater!
Schenke mir die Kraft zur Liebe statt zum Hass. Amen.
Warum der Großvater den Fernsehkrimi versäumte (Gudrun Pausewang)
„Eine Geschichte wollt ihr also hören", sagte der Großvater, als sie mit dem Essen fertig waren und die Kinder noch eine Weile aufbleiben durften. Die Mutter spülte das Geschirr in der Küche, der Vater saß schon vor dem Fernseher im anderen Zimmer. „Ja", sagte Peter, „aber eine wahre Geschichte, bitte!" „Eigentlich wollte ich mir den Krimi im Fernsehen anschauen", sagte der Großvater.
„Aber der fängt doch erst in einer halben Stunde an", sagte Annette. „Bis dahin kannst du uns längst eine Geschichte erzählt haben. Du musst eben eine kurze aussuchen." „Aber es muss eine wahre sein", sagte Peter.
„Na gut", sagte der Großvater. „Ihr sollt eure Geschichte bekommen. Und weil bald Weihnachten ist, will ich euch eine Weihnachtsgeschichte erzählen."
„Ist sie wahr?" fragte Peter.
„Mein Ehrenwort, dass sie wahr ist", sagte der Großvater. „Denn ich habe sie selber erlebt."
„Ist das schon lange her?" fragte Annette.
„Dreiunddreißig Jahre", sagte 'der Großvater. „Damals war euer Vater ein Baby. Und ich war noch viel jünger als jetzt euer Vater. Ich hatte damals noch ganz viele Haare und konnte auch, wenn ich wollte, einen Kopfstand machen. Ich konnte den ganzen Tag lang mit allerlei schwerem Zeug auf dem Buckel marschieren. Und wenn ich mal auf der bloßen Erde schlafen musste, bekam ich davon noch lange keinen Schnupfen." „Das hast du uns schon oft erzählt", sagte Peter. „Schieß jetzt los mit dem, was da zu Weihnachten passiert ist!"
„Ich war damals in Russland", sagte der Großvater, „weil wir doch mit den Russen Krieg führten. In Russland wird es im Winter viel kälter als bei uns, und in diesem Jahr war es sogar für die Russen ein ganz ekelhaft kalter Winter. Es war so kalt, daß vielen von meinen Kameraden die Finger und Zehen erfroren, und manche Soldaten, die verwundet waren und liegenblieben oder die so müde waren, daß sie im Schnee einschliefen, starben vor Kälte."
„Wie ist das, wenn man erfriert?" fragte Annette. „Der Körper wird immer kälter", sagte der Großvater, „bis das Blut aufhört, durch die Adern zu fließen, und das Herz stillsteht." „Ihr hättet euch wärmer anziehen müssen", sagte Annette. „Das taten wir auch, so gut wir konnten", sagte der Großvater, „aber was wir hatten, war nicht genug. Manche bekamen von daheim Pullover geschickt. Die waren gut dran. Andere zogen den Toten die Socken, Pullover und Mäntel aus und zogen sie sich selber an." „Pfui, wie gemein", sagte Annette.
„Wenn sie das nicht getan hätten", sagte der Großvater, „wären sie vielleicht selber erfroren." „Hast du's auch getan?" fragte Annette.
„Ja", sagte der Großvater, „ich habe lange eine Pelzjacke unter meinem Uniformmantel getragen - eine Pelzjacke, die einem Soldaten gehört hatte, der längst tot war. Ich habe sie während der schlimmsten Kälte getragen. Ich glaube, ich habe ihr zu verdanken, daß ich noch lebe. Aber als ich das erlebte, was ich euch jetzt erzählen will, da hatte ich sie noch nicht. Ich besaß nicht einmal einen warmen Wollpullover, denn der, den mir eure Großmutter geschickt hatte, war unterwegs verlorengegangen. Ich musste mit den Armen schlagen oder herummarschieren, wenn ich nicht erfrieren wollte. Die Russen waren besser dran, die hatten wärmere Mäntel. Und trotzdem sind auch viele von ihnen erfroren."
„Wenn es so kalt ist", sagte Peter, „sollte man einfach mit dem Kämpfen aufhören und erst dann weitermachen, wenn es wieder wärmer geworden ist."
„Das finde ich auch", sagte der Großvater. „Das allerbeste wäre, überhaupt nicht zu kämpfen. Das wünschten wir uns damals alle. Aber wir hatten das ja nicht zu entscheiden.
Ich erinnere mich noch genau an den Heiligen Abend in jenem Jahr. Es fiel kaum ein Schuss, denn auch die Russen feierten Weihnachten, und auf beiden Seiten der Front wollten die Soldaten wenigstens an diesem Tag Frieden haben. Wir saßen dichtgedrängt in einer Bauernhütte und sangen Weihnachtslieder. Einer spielte auf dem Akkordeon dazu. Wir fühlten uns alle sehr wohl, weil mitten in der Stube ein großer Kachelofen stand. Der machte so warm, daß man sogar die Pullover ausziehen konnte. Die ganze Hütte roch nach unserem Schweiß, denn wir waren ja schon viele Tage nicht aus unseren Kleidern herausgekommen!"
„Aber Opa!" rief die Mutter aus der Küche, „erzähle ihnen doch nicht solche Sachen!"
„Warum denn nicht?" antwortete der Großvater. „Sie sollen ruhig wissen, daß es auch solche elenden Zeiten gab, in denen die Menschen schlimmer dran waren als die Tiere!" „Weiter", sagte Peter. „Ist es am Heiligen Abend passiert?" „Nein", sagte der Großvater. „Erst zwei Tage später, am zweiten Weihnachtsfeiertag. Das Dorf, in dem wir uns aufhielten, war halb zerschossen und lag nahe an einem Wald. Von den Häusern konnte man nur die verschneiten Dächer sehen, denn es hatte so geschneit, daß es morgens in den Hütten finster war. Der Schnee lag in hohen Wehen bis über die Fenster. Wir mussten sie freischaufeln, wenn wir etwas sehen wollten. Am Mittag des zweiten Weihnachtsfeiertags beobachtete ich mit ein paar Kameraden den Waldrand von einem Hügel aus. Wir versteckten uns hinter einem Gebüsch. Dort konnten uns die Russen nicht sehen." „Waren sie im Wald?" fragte Peter.
„Daß sie im Wald waren, wussten wir", antwortete der Großvater. „Aber dieser Wald war riesengroß. Wir wussten nicht, ob sie erst mittendrin oder schon nahe am Waldrand waren. Wir wussten auch nicht, ob sie überhaupt zu unserem Dorf kommen würden. Hinter dem Gebüsch stapften wir im tiefen Schnee hin und her, um uns warmzuhalten. Bis zur Brust sanken wir ein. Nach einer Stunde wurde der Himmel gelblichgrau, und ein Schneesturm begann, wie ich noch keinen erlebt hatte." „Was ist ein Schneesturm?" fragte Annette.
„Es schneit und stürmt zugleich", erklärte der Großvater. „In den Lüften heult es so laut, daß man einander kaum verstehen kann; und versucht man zu rufen, so trägt der Sturm den Schall fort. Man sieht vor Schnee keine zwei Meter weit. Die Flocken wirbeln um einen herum und werden zu kleinen scharfen Eisnadeln, die einem ins Gesicht peitschen. Eisig fährt einem der Sturm in die Kleider hinein. Und alle Spuren sind im Nu verschwunden. So kam es, daß ich mich verirrte, als ich ins Dorf gehen sollte, um dort für meine Kameraden das Essen zu holen." Die Kinder sahen den Großvater erschrocken an. „Ja", sagte der Großvater, „das hört sich merkwürdig an. Der Weg vom Hügel bis zum Dorf war zu Fuß keine fünf Minuten weit, und trotzdem verirrte ich mich, denn ich sah nichts als Schnee und hörte nur den Sturm heulen. Ein paarmal wechselte ich die Richtung. Ich rief auch laut. Aber das half alles nichts. Ich fand kein Haus, und niemand hörte mich.
Ich ging und ging. Nach einer Zeit stieß ich an eine Fichte. Nach drei oder vier Schritten stand ich wieder vor einer Fichte. Ich merkte, daß ich in den Wald geraten war. Ich wollte schleunigst umkehren, denn im Wald waren ja die Russen. Aber ich fand nun nicht mehr heraus. Es war wie verhext. Ich bildete mir ein, zum Dorf zurückzugehen, aber in Wirklichkeit geriet ich immer tiefer in den Wald."
„Ich hätte geschaut, wo die Sonne steht", sagte Peter. „Wenn ich das gekonnt hätte, wäre es einfach gewesen, zurückzufinden", sagte der Großvater. „Aber die Sonne war ja nicht zu sehen. Es war gleichmäßig dämmrig, wohin ich auch schaute. Und bis zur Hüfte watete ich im Schnee! Deshalb kam ich nur mühsam vorwärts. Das Gewehr musste ich auch schleppen. Ich war müde, halb erfroren und ganz verzweifelt. Ich fürchtete schon, ich würde hier mitten im Wald erfrieren, denn viel Kraft zum Weiterlaufen hatte ich nicht mehr. Nun war ich schon über eine Stunde gewandert, und nichts als Bäume!
Plötzlich tauchte aus dem Schneegestöber vor mir ein Mensch auf, ein Mann. Wir stießen fast zusammen. Es war wirklich ein großer Zufall, dass wir in diesem großen Wald aneinandergerieten. Er winkte und schrie etwas, aber ich konnte nichts verstehen. Ich war vor Freude ganz außer mir. Ich stolperte auf ihn zu und umarmte ihn. Er war genauso müde wie ich, das sah man ihm an. Er keuchte. Aber er freute sich auch mächtig, dass er mich getroffen hatte. Na, da standen wir erst mal, bis zum Bauch im Schnee, und hielten uns aneinander fest. Dann zeigte er in irgendeine Richtung und begann etwas zu erklären und zu erzählen, aber ich verstand nichts, denn es war russisch. Da merkte ich, daß ich einen Feind vor mir hatte."
„Hat er geschossen?" fragte Peter aufgeregt.
„Nein", sagte der Großvater. „Obwohl er nun auch merkte, dass ich ein Deutscher war. Wir waren beide so verblüfft, daß wir nur dastanden und uns anstarrten."
„Du hättest ,Hände hoch!' sagen müssen!" rief Peter. „Unsinn", sagte der Großvater. „Was hätte ich denn mitten im Schneesturm, irgendwo im Wald und starr vor Kälte, mit einem Gefangenen machen sollen! Das Allerwichtigste war im Augenblick für uns beide, den Schneesturm zu überstehen. Das begriff er so gut wie ich. Wir erkannten auch, daß es keinen Zweck hatte, weiterzustapfen. Wir mussten abwarten und dafür sorgen, daß wir nicht erfroren. Der Russe schlug mir mit der Hand auf die Schulter und grinste. Das sollte wohl Frieden bedeuten. Ich zeigte auf eine Fichte neben uns, deren Zweige wie im Schirm in den Schnee herabhingen. Wir krochen beide darunter und scharrten uns eine Höhle, ein Schneeloch. Unsere Gewehre legten wir nebeneinander in den Schnee, diese lästigen Dinger! Dann kauerten wir uns ganz eng aneinander, Schulter an Schulter. So konnte einer den anderen wärmen. Ich hatte noch sechs Zigaretten, aber keine Streichhölzer bei mir. Ich gab ihm drei davon ab. Er hatte eine Schachtel Streichhölzer. Er gab mir Feuer. Wir rauchten eine Zigarette. Danach hatten wir wieder mehr Mut. Wir konnten nicht miteinander reden, aber das war auch gar nicht nötig. Er hatte eine Feldflasche bei sich, in der war noch ein Rest Wodka. Das ist ein Getränk, das einen wärmt. Abwechselnd tranken wir einen Schluck daraus, bis die Flasche leer war. Er zeigte mir auch ein Foto von seiner Frau und seinen zwei kleinen Töchtern. Die eine war noch ein Baby. Er strich ein Streichholz an, damit ich das Foto besser sehen konnte, denn in unserer Höhle war es fast dunkel. Dann zeigte ich ihm das Foto von eurer Großmutter mit eurem Vater."
„War es das Foto, das du jetzt noch immer auf deinem Schreibtisch stehen hast?" fragte Annette. „Das, wo Vati in einer Strampelhose auf Großmut-ters Arm sitzt?"
„Ja", sagte der Großvater. „Genau das. Der Russe strich auch für dieses Foto ein Streichholz an..."
„Und was habt ihr danach gemacht?" fragte Peter. „Geschlafen", sagte der Großvater. „Wir lehnten Köpfe und Schultern aneinander und schliefen. Wir schliefen den Rest des Nachmittags und die ganze Nacht. Gegen Morgen hörte der Sturm auf. Die Schneewolken zogen fort. Durch das Eingangsloch sah ich, als ich aufwachte, die Sterne glitzern. Sobald die Sonne aufging, konnten wir erkennen, wo Osten und Westen war. Ich sah, in welche Richtung ich gehen musste, um zu meinen Kameraden zu kommen. Wir krochen aus dem Loch heraus, der Russe und ich, wühlten unsere Gewehre aus dem Schnee, umarmten uns und stapften davon. Ich hierhin, er dorthin. Von weitem winkten wir uns noch einmal zu.
Als ich ins Dorf zurückkam, gab es ein Hallo. Alle hatten gedacht, ich läge irgendwo erfroren im Schnee. Ich erzählte ihnen aber nichts von dem Russen. Denn vielleicht hätten sie mir Vorwürfe gemacht, dass ich ihn nicht erschossen habe. Aber als ich ihn traf, wollte ich ihn nicht erschießen, weil ich ohne ihn erfroren wäre. Und als ich mich wieder von ihm trennte, wollte ich ihn erst recht nicht umbringen, denn inzwischen war er so etwas wie mein Freund geworden. Deshalb war ich lieber still. Verrückt, was?" Peter überlegte eine Weile, dann sagte er: „Schuld haben die, die auf beiden Seiten den Befehl zum Krieg geben. Man sollte die mal eine Nacht lang zusammen in eine Schneehöhle stecken, bei einem solchen Wetter wie damals! Dann würden sie sich's anders überlegen." „Keine schlechte Idee", sagte der Großvater. „Und jetzt hast du deinen Krimi verpasst!" rief die Mutter herüber. „Macht nichts", sagte der Großvater. „Macht gar nichts."
Hier sind alte Andachten zu finden:
https://evangelisch-neuss-sued.de/gottesdienste/beten-zuhause