Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.
Römerbrief 14,8
Diese Worte aus dem Brief des Paulus an die Gemeinde in Rom gehört mit zur Liturgie bei einer Bestattung. Sie werden direkt am Grab gesprochen, dort wo der Abschied am meisten schmerzt. Sie signalisieren den Trauernden: Hier endet der erste Teil des Lebens, der zweite Teil hat längst begonnen. Egal ob wie leben oder sterben, wir bleiben Gottes geliebte Kinder.
Mich erinnern die Worte des Paulus daran, dass ich vor dem Tod keine Sorge haben muss. Jesus Christus ist uns vorangegangen. Er hat den Tod erlitten und war in dem Reich des Todes. Aber er ist auferstanden, lebendig geworden. „Hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten“ – so sprechen wie es im Glaubensbekenntnis. Durch ihn hat der Tod seine Grausamkeit verloren. Er ist kein Abgleiten ins Nichts, sondern in die Barmherzigkeit Gottes.
Wenn ich Menschen auf ihrem letzten Weg begleitet habe, dann habe ich das Sterben als absolut friedliches Geschehen erlebt. Es ist wie ein sanftes Hinübergleiten von einem Leben in das andere – ein Gleiten in die Hände Gottes.
Aber nicht nur im Sterben sind wir Gottes Kinder, sondern auch im Leben. Auch da sind wir gehalten und begleitet. Da macht uns Gott Mut, er tröstet uns, richtet uns wieder auf, ermahnt uns. Und das zu wissen, gibt mir viel Kraft. Das zu glauben, macht mich groß. Ich bin Gottes Kind. Ich bin nicht alleine.
Also kann ich mein Leben in Angriff nehmen. Ich kann planen, machen, tun. Und ich kann versuchen, dieses Leben erfüllt und gefüllt zu leben. Ich kann mich an meinem Leben freuen, es genießen, und mich manchmal auch fallenzulassen, auszuruhen. Wie schön.
Guter Vater!
Ich bin dein Kind. Danke. Amen.
Das Fräulein mit dem weißen Kopftuch (Gina Ruck-Pauquet)
Robert hatte das Gefühl, dass sein Gesicht nicht zu ihm gehörte, dass es
fremd geworden war. Das ging ihm oft so, wenn er aus dem Kino
kam. Er war während des Filmes langsam mit dem Hauptdarsteller
verschmolzen.
Jetzt stand er auf der Straße, ein wenig fröstelnd, ein wenig verloren,
ausgestoßen aus einer Welt, in die er für eine Weile gehört hatte.
Es war früher Abend. Robert steckte die Hände in die Taschen und
machte sich langsam auf den Heimweg. Er sah sich immer am liebsten
Wildwestfilme an.
Das war eine Zeit gewesen, damals, in der es etwas zu tun gab für die
Menschen. Die Erde war jung gewesen. Man musste sie sich gefügig
machen. Die Gesetze waren jung gewesen. Jede neue Erfahrung
konnte alles ändern. Da hieß es kämpfen, seine Kräfte einsetzen, seine
Geschicklichkeit. Es hieß, Zentimeter um Zentimeter zu gewinnen.
Das ist vorbei, dachte Robert. Kein Raum mehr für Abenteuer. Es ist
alles getan. Schade, dachte er.
Jetzt flammten die Leuchtreklamen auf. Menschen drängten an ihm
vorbei. Ein wenig noch war Robert Mike, der dem Land seinen Teil
abrang, der seine Feinde unterwarf.
Er bog aus der erleuchteten Innenstadt in das Viertel ab, in dem er
wohnte. Hier war es dunkler und ruhiger.
Da raste mit heulenden Sirenen der Polizeiwagen an ihm vorbei. Als
Robert in seine Straße kam, sah er den Menschenauflauf. Wie eine
riesige Traube ballten sich die Leute vor dem Nachbarhaus zusammen.
Polizisten hielten die Haustür frei.
Robert schob sich näher heran.
„Selbstmord", hörte er.
„. . . und niemand etwas gemerkt."
„Sie muss drei Wochen in ihrer Wohnung gelegen haben."
„Noch gar nicht so alt", hörte er.
„Wer denn eigentlich? Wer?" fragte eine Frau, und ihr Mund sah
ganz gierig aus.
„Das Fräulein", sagte jemand. „Die mit dem weißen Kopftuch."
„Daß es keiner gemerkt hat!" hörte Robert.
„Hat sie denn nirgendwo gearbeitet?" Achselzucken.
„Es kam nie jemand zu ihr", sagte ein Mann in Pantoffeln. Robert kannte ihn. Er wohnte im Haus. Das Fräulein mit dem weißen Kopftuch hatte Robert auch gekannt. Wie man Leute so kennt. Vom Ansehen. Er hatte nie mit ihr gesprochen. Manchmal waren ihre Blicke sich begegnet, so im Vorübergehen. Sie hatte ein blasses Gesicht gehabt, ein bisschen gelblich. Hübsch war sie nicht gewesen. Jetzt trugen zwei Männer vom Roten Kreuz sie heraus. Sie lag auf einer Bahre, zugedeckt. „Wahrscheinlich Tabletten", sagte jemand. Sie hat drei Wochen in ihrer Wohnung gelegen, dachte Robert, und niemand hat sie vermisst.
Und plötzlich wusste er, dass nicht alles getan war auf dieser Erde. Es stimmte etwas nicht, wenn solche Dinge passieren konnten. Der Krankenwagen fuhr ab. Robert überlegte, ob sie auch jetzt das weiße Kopftuch tragen mochte.
„Eine eigenartige Person", sagte jemand. „So zurückgezogen." Für einen Augenblick huschte ein Bild aus dem Film durch Roberts Kopf. Er sah noch einmal, wie Mike sein Land absteckte. Das war wichtig, dachte er. Damals war das wichtig. Und es wurde ihm klar,- dass das vorbei war. Dass es jetzt andere Dinge zu tun. gab.
Vielleicht würde sie noch leben, dachte er, wenn jemand dagewesen wäre.
Nein, es war längst nicht alles getan. Ihm war, als müsse die Erde neu erobert werden, wieder und wieder.
Es sind nur andere Probleme, dachte er, und andere Gefahren. Die Menschen zerstreuten sich langsam. Sie würden in ihren warmen Wohnungen weiter über die Sache sprechen. Einen Augenblick stand Robert allein vor der Haustür. Er spürte die Muskeln in seinem Gesicht, und es war wirklich wieder sein Gesicht. Und etwas darin mochte sich verändert haben.