Dann wird man vergeblich nach der Schuld Israels und nach den Sünden Judas suchen – sie sind nicht mehr da; denn ich habe denen die Schuld vergeben.
Jeremia 50,20
Wenn man diesen Satz so liest, dann klingt er nach Vergebung und Neuanfang. Obwohl sich sein Volk von ihm abgewandt hatte, vergibt Gott ihm seine Schuld. Er tilgt sie einfach. Sie ist nicht mehr da. Es folgt aber ein kleiner Nebensatz, der eigentlich nicht zur Tageslosung gehört; der aber den Satz völlig verändert: „, die ich aus meinem Volk übrig lasse.“
Dieser Nachsatz kann bedeuten: Israel zahlt den Preis für seine Schuld. Erst als der Preis bezahlt ist, vergibt ihm Gott. Ein Gott, der also aufrechnet?
Ein Versuch einer anderen Erklärung: Als der König von Israel sich von Gott abwendet, begeht er einen schweren Fehler. Er vertraut auf sein gutes Verhältnis zu Ägypten. Der Pharao wird ihm schon gegen den Feind Babylonien beistehen. Als aber der babylonische König mit Truppen anrückt, denkt der Pharao gar nicht daran, eigene Leute zu opfern. Israel verliert haushoch, der Tempel wird zerstört, die Oberschicht ins Exil geführt. Der Fehler des Königs kostet tausende Menschenleben und bringt viel Unheil über sein Volk.
Schuld verhallt nicht wirkungslos. Sie verpufft nicht einfach. Sie verschwindet nicht durch eine Zauberei. Schuld quält, tötet, demütigt. Schuld hat einfach immer schlimme Konsequenzen. Dies ist und bleibt bis heute so.
Auch wenn Gott Schuld vergibt, hat trotzdem die begangene Schuld vorher katastrophale Konsequenzen gehabt. Und diese schlimmen Folgen werden durch die Vergebung nicht einfach ungeschehen. Von den Vielen waren nach dem Krieg nur ein paar wenige übriggeblieben.
Guter Vater!
Hilf mir, dass meine Schuld nicht noch größer wird. Amen.
Mitschuldig
Eines Morgens findet Frau Sander in ihrem Briefkasten ein Schreiben. Frau Neumann klagt sie darin an:
Sehr geehrte Frau Sander!
Es gibt Mörder, die - wenn ich es so sagen darf- gnädig sind. Sie ziehen die Pistole und erschießen ihr Opfer oder greifen zum Messer und erstechen es. Ein Mensch stirbt, er verliert sein Leben, aber seine Leiden sind gering. Sie aber bereiten meiner Tochter einen qualvollen Tod. Meiner Britta, die Sie von Herzen liebt. Wenn ich mir vorstelle, wie oft haben Sie dieses fröhliche Kind in die Arme geschlossen, wie oft haben Sie ihre Wangen gestreichelt oder sie auf die Stirn geküsst. Judasküsse! Rührte sich nicht Ihr Gewissen? Schrie es nicht!? Ich frage mich, wie kann eine Mutter so grausam sein. Wenn Sie meine Tochter nicht liebten, hätten Sie wenigstens Achtung vor diesem jungen Leben haben müssen und den Gefühlen einer anderen Mutter. Sie hätten nicht schweigend dem Handeln Ihres Sohnes zusehen dürfen. Dieses Schweigen macht sie zur Mittäterin. Vielleicht spricht sie ein irdischer Richter frei, der himmlische bestimmt nicht!
Sie haben den Tod meiner Tochter billigend in Kauf genommen, für das Vergnügen Ihres Sohnes. Und was für einen Tod! Es sind nicht allein die Qualen eines jahrelangen Siechtums, es ist die gesellschaftliche Isolierung, die meine Britta treffen wird, und nicht nur sie, unsere ganze Familie gerät ins Abseits. Die Mitmenschen werden uns ächten. Britta wird nie eine Arbeit bekommen, für sie wird sich kein Berufswunsch erfüllen. Stattdessen werden sie Depressionen plagen, von den ständigen Schmerzen nicht zu sprechen. Und nur, weil sie ihren Sohn liebte mit ehrlichem Herzen.
Sie wussten um die Krankheit Ihres Sohnes und durften diese Immunschwäche meinem Kind nicht verheimlichen. Ich klage Sie an, Sie und Ihren Sohn, denn Ihr Schweigen war Mord. Ich hoffe, Gott möge Ihnen beiden kein gnädiger Richter sein!
Frau Neumann
Noch am gleichen Tag antwortet Frau Sander. Sie ist bestrebt, wenigstens diese Erklärung abzugeben:
Sehr geehrte Frau Neumann!
Nichts kann ich ungeschehen machen, das ist erschütternd und zermürbend zugleich! Aber ich will mein Handeln erklären. Jahrelang ist meinem Mann und mir der Wunsch nach einem Kind unerfüllt geblieben. Sie glauben nicht, wie viele Ärzte wir aufsuchten. Ich war schon über dreißig, als ich schwanger wurde. Wenn man sich ein Kind so ersehnt hat, dann liebt man es über alles. Besonders, wenn es sich so prächtig entwickelt wie unser Jens. Er machte uns nur Freude, ob in der Schule oder zu Hause. Wir waren eine glückliche Familie. Doch das Unheil brach über uns herein in Bruchteilen von Sekunden. Auf dem Weg in den Urlaub! Bei bester Stimmung! Auf der Autobahn hinter Nürnberg! Ein Wagen scherte aus und drückte uns gegen die Leitplanke. Schuldlos kamen wir schwer verletzt ins Krankenhaus, Jens gleich auf die Intensivstation.
Die Ärzte kämpften tagelang um das Leben unseres Kindes. Operationen -waren nötig, Bluttransfusionen wurden gemacht. Als die Ärzte sagten, jetzt sei er über den Berg, dankte ich Gott. Jens wurde wieder gesund, vollständig, so glaubten wir. Doch dann kam der Skandal, von dem Sie in den Zeitungen lesen konnten, über den das Fernsehen berichtete. Skrupellose Geschäftsleute, die nur auf ihren Profit aus waren, hatten AIDS-verseuchte Blutkonserven an die Krankenhäuser verkauft. Als man mich benachrichtigte, ich sollte Jens untersuchen lassen, stand mein Herz still. Ich betete, ich flehte zum Himmel. Und dann die Antwort: Positiv! HIV-positiv!! Ich weiß nicht, wie viele Nächte ich bitterlich geweint habe. Auch wir sahen vor uns das gesellschaftliche Abseits, in das unser Junge und wir geraten würden. Ein paar unbeschwerte Jahre wollten wir ihm noch gönnen, zumal die Krankheit bei ihm noch nicht ausgebrochen war. Darum schwiegen wir, mein Mann und ich. Von seiner Freundschaft zu Ihrer Tochter hat er uns nichts erzählt. Als wir davon hörten, brachen wir unser Schweigen. Zu spät! Gott möge meinem Mann und mir ein gnädiger Richter sein!
Frau Sander
Es gibt eine Seite mit den alten Losungsandachten:
https://evangelisch-neuss-sued.de/gottesdienste/beten-zuhause