Predigt an Palmsonntag über Philipper 2, 5-11
(24.3.2024; Auferstehungskirche, Thema: Gottes Mitsein in Jesus Christus)
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen
Liebe Gemeinde!
Vielleicht haben sie das schon einmal so erlebt, dass Sie den Eindruck haben: Es gibt niemanden, der mich versteht. Keiner ist für mich da. Jeder geht seine eignen Wege.
Ich möchte Ihnen und euch eine Geschichte von Tschechow erzählen. Sie trägt den Titel: „Wem klage ich mein Leid.“
Abenddämmerung. Große, nasse Schneeflocken umwirbeln träge die eben angezündeten Laternen und legen sich in einer dünnen weichen Schicht auf die Dächer, Pferderücken, Schultern und Mützen. Der alte Droschkenkutscher Jona Popatow ist weiß wie ein Gespenst. So tief gebückt, wie ein lebendiger Körper nur irgend sein kann, sitzt er auf dem Bock und regt sich nicht.
Popatow ist bereits am Vormittag ausgefahren, doch der erste Fahrgast will heute einfach nicht kommen. Jetzt senkt sich schon die abendliche Dunkelheit herab. Die bis dahin blasse Färbung des Laternenlichts wird lebhafter, das Getriebe auf den Straßen wird arger, lärmender. „Zur Wiborger Seite!" hört es Jona rufen. Ein Offizier steigt in die Kutsche. Jona schnalzt mit den Lippen, streckt den Hals vor wie ein Schwan, ebenso streckt jetzt auch das Pferdchen den Hals vor, krümmt seine steifen Beine und setzt sich unentschlossen in Bewegung. Nach einer Weile schaut sich der Kutscher um und bewegt die Lippen. Er will augenscheinlich etwas sagen, aber seiner Kehle entringt sich nur ein Krächzen. „Was ist denn?" fragt der Offizier ungeduldig. Jona verzieht den Mund zu einem Lächeln, strengt seine Kehle an und bringt heiser hervor: „Mein Sohn... er ist mir vor ein paar Tagen gestorben..."
- „Hm... woran denn?" -„Wir wissen es nicht. Vielleicht war's das Fieber... Ja, gewiss... Drei Tage lag er krank - und im Krankenhaus ist er dann auch gestorben... Es war Gottes Wille!" - „Gut, gut... aber nun mach! Sonst komm ich nie ans Ziel!"
Auf der Wiborger Seite angekommen, steigt der Offizier aus. Drei Betrunkene, darunter ein Buckliger, stürmen heran. „Kutscher, zur Polizeibrücke!" ruft der Bucklige. „Wir sind zu dritt - zwanzig Kopeken!" Jona zieht die Leine an und schnalzt. Zwanzig Kopeken .sind ein Spottpreis. .. Aber jetzt ist alles egal, solange man nur Fahrgäste hat. Er fühlt hinter sich die sich hin und her bewegenden Körper und das Vibrieren der Stimme des Buckeligen. Er hört sie schimpfen, sieht die vielen Leute, und langsam verzieht sich das Gefühl der Einsamkeit aus seiner Brust. „Kutscher", fragt einer seiner Fahrgäste, „bist du verheiratet?" - „Ich... mich fragen Sie? Hihihi, ich habe jetzt nur noch meine Frau... die feuchte Erde... das Grab, meine ich... hat meinen Sohn verschluckt. Er ist tot - und ich lebe noch. Wunderlich... Der Tod hat sich in der Tür geirrt..." Jona wendet sich um, um von seinem Sohn zu erzählen, da seufzt auch schon der Buckelige auf und erklärt, nun seien sie, Gott sei Dank,
schon am Ziel. Jona erhält sein Zwanzigkopekenstück und schaut den Bummlern lange nach. Sie verschwinden in einem dunklen Torweg.
Wieder ist er allein. Alles um ihn wird wieder still. Das Leid, das er erlebt hat, erhebt sich von neuem und bedrückt seine Seele mit noch größerer Kraft. Ist denn unter den Tausenden keiner, der ihn anhören will? dann zieht er die Leine an. Es geht alles über seine Kraft. „Ins Nachtquartier", denkt er, „nach Hause."
Nach eineinhalb Stunden sitzt Jona schon an dem großen, schmutzigen Ofen. Auf dem Ofen, dem Fußboden und auf den Bänken liegen schnarchende Männer. Es ist eine furchtbare Luft. Jona betrachtet die Schlafenden und bedauert schon, so früh heimgekommen zu sein. „Nicht einmal das Geld für den Hafer habe ich zusammengefahren", denkt er. „Deshalb hat mich der Kummer auch so gepackt. Ein Mensch, der sein Geschäft kennt – ist selber satt, seine Seele ist ruhig …“
Einer der Schläfer erwacht und langt nach einem Eimer Wasser. „Willst du etwas zu trinken?" fragte Jona. „Wie du siehst!" - „Nun, auf deine Gesundheit! Bruder, mein Sohn ist gestorben..., hast du's gehört... Das war eine Geschichte." Erwartungsvoll schaut Jona auf den Trinkenden. Der hat schon wieder die Decke über den Kopf gezogen und schnarcht. Jona seufzt auf.
Er möchte so gerne erzählen, es loswerden. Eine Woche ist es bald schon her, seitdem sein Sohn starb. Und mit niemandem. hat er reden können. Wie sein Sohn erkrankte, wie er sich quälte, was er vor seinem Ende sagte, wie er starb. Er möchte das Begräbnis beschreiben, und wie er, Jona, dann ins Krankenhaus fuhr, um seine Sachen zu holen; und im Dorf blieb seine Tochter Anissja zurück, auch von der möchte er erzählen, und die Zuhörer müssten dabei bedauernd die Köpfe schütteln und auch etwas dazu sagen.
Anton Tschechow „Wem klage ich mein Leid?“ (i.A.)
Wem klage ich mein Leid? Diese Frage stellt Tschechow in seiner Geschichte des armen Kutschers Popatow. Der Kutscher bleibt mit seinem Leid und seinem Kummer alleine. Niemand will ihm zuhören. Alle sind mit sich selbst beschäftigt. Alle haben andere Sorgen. Oder sie sind so weit von dem alten Mann entfernt, dass sie seine Trauer nicht nachvollziehen können. Einsam ist der Kutscher Popatow - und dass, obwohl er doch tagtäglich vielen Menschen begegnet.
Unser heutiger Predigttext ist ein altes urchristliches Lied. Es erzählt von einem Menschen, der andere versteht - von einem Menschen, der selber die Tiefen des Lebens kennen gelernt hat. Das Lied wurde von Paulus aufgenommen in seinen Brief an die Gemeinde in Philippi. Ein Hymnus auf Jesus Christus ist es:
Er war in allem Gott gleich, und doch hielt er sich nicht gierig daran fest, so wie Gott zu sein. Er gab alle seine Vorrechte auf und wurde einem Sklaven gleich. Er wurde ein Mensch in dieser Welt und teilte das Leben der Menschen. Im Gehorsam gegen Gott erniedrigte er sich so tief, dass er den Tod auf sich nahm, ja, den Verbrechertod am Kreuz. Darum hat Gott ihn auch erhöht und den Rang und Namen verliehen, der ihn hoch über alle stellt. Vor Jesus müssen alle auf die Knie fallen - alle, die im Himmel sind, auf der Erde und unter der Erde; alle müssen feierlich bekennen: „Jesus Christus ist der Herr!“ Und so wird Gott der Vater geehrt.
Kurze knappe Sätze, die doch alles enthalten. Große, meterweise Regale füllende Abhandlungen sind über Jesus Christus geschrieben worden. Und doch ist alles in den wenigen Sätzen zusammengefasst, die Paulus schreibt.
Und diese Sätze beschreiben einen Weg, den Weg von Jesus. Wir kennen diesen Weg, feiern jahrein jahraus die großen Feste unserer Kirche aufgrund dieses Weges Jesu: Weihnachten, Gründonnerstag, Karfreitag, Ostern. Geburt, Gemeinschaft mit den Menschen, Sterben und Tod sowie die Auferstehung von den Toten - dieser Weg Jesu begleitet uns Jahr für Jahr.
Was aber bedeutet dieser Weg Jesu für uns heute hier in der Auferstehungskirche? Was bedeutet er für jeden einzelnen von uns?
In dem Lied heißt es: Jesus Christus gab seine Vorrechte auf und wurde einem Sklaven gleich. Für mich ist das Bild des Sklaven ein Symbol dafür, dass er sich ganz in den Dienst für die Menschen stellte. Er gibt Acht darauf, dass nichts verloren geht. Er hat ein waches Auge für die Menschen, besonders für die Schwachen und Geringen: Die Elenden und Kranken, die Armen, die Frauen und Kinder. Die, die wenig galten in Israel, denen galt Jesu Zuwendung. Denn alle sie brauchten einen Menschen, der sich ihnen zuwendet. Und in Jesus von Nazareth begegnet ihnen diese Zuwendung - ganz und ungeteilt. Jesus ruft sie zu sich: Die auf vielfache Weise Gelähmten und Behinderten, die Stummgewordenen und Stummgemachten, die Gerechten und die Schuldigen lädt er ein. Er lädt sie ein und lässt sie so Gottes Liebe zum Leben erfahren. So wird deutlich, was es konkret bedeutete, wenn es in dem Lied heißt: Er war in allem Gott gleich, und doch hielt er sich nicht gierig daran fest, so wie Gott zu sein. Er gab alle seine Vorrechte auf und wurde einem Sklaven gleich. Er wurde ein Mensch in dieser Welt und teilte das Leben der Menschen.
Und noch eines können wir an Jesus von Nazareth erkennen. Er stellte seine eigene Persönlichkeit niemals in den Vordergrund. Bei ihm ist kein Raum für Selbstdarstellung. Jesus lebt immer aus der Beziehung zu seinem Vater und in der Beziehung zu den Menschen. Dies steht im Mittelpunkt seines Lebens - nicht er selber. Der Weg Jesu mit den Menschen ist das Entscheidende. Und von diesem Weg ließ er sich niemals abbringen - weder von seinen Eltern und Verwandten, noch von seinen Gegnern. Den Weg mit den Menschen und zum Wohle der Menschen ging er konsequent weiter und ließ sich auch durch die Drohungen der aufgeschreckten Staatsmacht und des etablierten Priestertums davon nicht abhalten. Jesus ist der Gott, der mit den Menschen ist - er ist selber Mensch und verkündigt damit: Gott ist nicht weit entfernt und irgendwo oben, sondern mitten im Leben der Menschen.
Gott teilt dieses Leben mit uns. Und dieses Teilen geht so weit, dass es alle menschlichen Erfahrungen von Schmerz und Verlassenheit, von Verzweiflung und tiefster Not teilt. An dem Kreuz auf Golgatha leidet ein Mensch. --- Dies steckt hinter den Sätzen des Liedes: Im Gehorsam gegen Gott erniedrigte er sich so tief, dass er den Tod auf sich nahm, ja, den Verbrechertod am Kreuz.
Und dieser Weg Jesu mit den Menschen wird von Gott bestätigt. Der Tod am Kreuz bedeutet kein Scheitern Jesu, sondern birgt Gottes Willen zum Heil der Menschen. Die Bestätigung des Weges des Menschen Jesus von Nazareth geschieht in seiner Auferweckung von den Toten. Gott, der Vater ruft ihn ins Leben und setzt ihn ein zum Herrscher über alle Welt. Darum hat Gott ihn auch erhöht und den Rang und Namen verliehen, der ihn hoch über alle stellt. Vor Jesus müssen alle auf die Knie fallen - alle, die im Himmel sind, auf der Erde und unter der Erde.
Dieser Weg Jesu ist für mich Beruhigung, Trost und Stärkung zugleich. Denn dieser Weg gibt mir Sicherheit - Sicherheit, dass es keinen Bereich meines Lebens gibt, der für Gott nicht zugänglich ist - dass es keinen Bereich des Lebens gibt, in den Gottes Stärke nicht hineinreicht.
Gerade eben haben wir die Geschichte des Kutschers Popatow gehört: Wem klage ich mein Leid? Die Antwort, die wir aus dem Weg Jesu heraus bekommen lautet: Gott klage ich mein Leid. Gott klage ich mein Leid, denn er kennt dieses Leid, hat es selber ertragen. Er ist kein hoher erhabener allmächtiger Gott, der so weit oben im Himmel thront, dass er von den Menschen himmelweit entfernt ist. Er war Mensch und weiß ganz genau, was menschliches Leid ist. Er hat alles das durchlitten, was Menschen an Leid begegnen kann. Darum ist er gerade im Leid unser Wegbegleiter. Er hört zu, wenn wir klagen und er weiß, wovon wir reden.
Und dies ist auch gut so! Denn es gibt manchmal im Leben Situationen, in denen es uns ähnlich geht wie dem Kutscher Popatow. Alleine heute werde ich fünf Namen nennen von Menschen, die wir beerdigt haben. Einer von ihnen ist nur 34 Jahre alt geworden. Leid, Klage, es gibt sie auch heute noch und sie schmerzen so wie damals den Kutscher Popatow. Niemand scheint dazu sein, der das Leid und die Klage hört. Und vor allem: Niemand scheint da zu sein, der die Klage versteht - der nachvollziehen und verstehen kann wie es einem wirklich geht. Gott aber kann dies und er tut dies!
Und zum anderen ist dieser Gott ein mächtiger und starker Gott. Jesus Christus gehört die Herrschaft über diese Welt. Ihm gehört auch die Herrschaft über alle die Mächte und Gewalten, die uns bedrängen. Es gibt nichts, dem wir ausgeliefert sind und dem Gott nichts entgegensetzen kann.
Der Weg Jesu zeigt uns Gott als einen verlässlichen Begleiter unseres Lebens. Wir werden uns immer bedingungslos auf ihn verlassen können. Und wir können dadurch leben, wie es in einem Gedicht ausgedrückt ist:
Er war, wo Menschen kämpften und litten, wo Menschen ihre Hoffnung nicht aufgaben, wo sich Arme, Entrechtete und Unnütze trafen. Sein Mitsein durchzieht unser Leben. Sein Mitsein macht uns bereit, immer neu aufzubrechen zu anderen Ufern. Er gibt uns Vertrauen selbst unmögliches zu versuchen, wachsam zu bleiben, die Wahrheit zu sagen, Getretene aufzurichten, Geschundene nicht alleine zu lassen und ein Leben im Vertrauen auf ihn zu führen.
Im letzten Satz des Liedes heißt es: alle müssen feierlich bekennen: „Jesus Christus ist der Herr!“ Und so wird Gott der Vater geehrt. Lassen sie uns dies tun - heute und in der kommenden Woche - zu bekennen: „Jesus Christus ist der Herr zur Ehre Gottes. Amen.
Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen