Predigt an Rogate über Johannes 16, 23b-28.33
(25.5.2025; Auferstehungskirche, Thema: Beten)
Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen
Liebe Gemeinde!
Leben ist Begegnung. Wer ich bin, wie ich wirke, was ich kann, all das erfahre ich nur in der Begegnung mit anderen Menschen. Würde ein Mensch geboren, der ganz allein auf der Welt wäre, er wüsste nichts über sich.
Manchmal kann man die Geschichte eines Menschen aus der Geschichte seiner Begegnungen erzählen. Vielleicht denken Sie einmal kurz an wichtige Begegnungen in Ihrem Leben, Begegnungen, die Sie weitergebracht, die Ihr Leben verändert haben. Fallen Ihnen welche ein?
Meist begegnen wir uns über das Gespräch. Es ist unsere häufigste Form der Begegnung und des Austausches. Und immer ist dieses Gespräch ein Suchen nach Antwort auf die Frage: Wer bin ich, warum lebe ich? Wir können nur so leben, indem wir in Beziehung treten und andere fragen: Wer bist denn du? Was willst du von mir? Wer bin ich für dich? Was können wir einander sein?
Auch das Gebet ist nichts anderes als ein Gespräch. Es ist ein Gespräch, das nie zum Ende kommt. Mit jeder Antwort brechen neue Fragen auf: Wer bist du, Gott, der du mir begegnest und gegenüberstehst in meinem Leben? Wer bist du, der versprochen hat, mich nie loszulassen? Wo warst du, als es dunkel war? Gib Antwort, Gott, gib dich zu erkennen!
Es ist immer schade, wenn Menschen das Gespräch abbrechen, vor allem, wenn sie meinen, sie wüssten schon alles. Ich mag Menschen, die ihr Leben als Gespräch verstehen, die sich nicht schämen, zu beten und zu fragen, zu bitten und zu danken.
Der Name dieses Sonntags lautet „Rogate", zu deutsch „Betet" - sonst nichts.
„Betet", das klingt wie ein Befehl, so, als wäre Beten nur eine Sache des guten Willens. So, als müsste nur jemand kommen und sagen: „Los, bete!", und schon ginge es. Ist das so einfach? Was ist, wenn ich mir komisch vorkomme dabei, peinlich berührt bin von mir selber, mich demütiger fühle, als ich in Wirklichkeit bin?
Vielleicht habe ich längst aufgehört zu beten, weil es mir kindisch vorkommt. Vielleicht habe ich mir das Beten auch aufgehoben, für die Zeit, in der ich's brauche, ich Angst habe, traurig bin, nicht mehr weiterweiß, und hoffe, dann betet sich's leichter. Nur komme ich mir hinterher irgendwie schäbig vor. Vielleicht glaube ich auch, um beten zu können, muss man zuerst fest an Gott glauben. „Rogate", „Betet", ist eigentlich eine unmögliche Aufforderung.
Aber trotzdem: Irgendwie ist das Beten zählebig. Ob Jude oder Christ, ob Moslem oder Sektenanhänger, ob Liberaler oder Fanatiker - gebetet wird immer. Man kann tagsüber über das Gebet spotten und nachts dann doch beten. Man kann Gott mit dem Verstand leugnen, aber sich mit dem Gefühl an ihn wenden. Das ist nicht konsequent, aber menschlich. Vielleicht hat Gott in uns eine tiefe Sehnsucht nach Begegnung und Gespräch gelegt. Diese Sehnsucht sitzt so tief, dass sie auch dann noch da ist, wenn uns der Glaube an Gott längst entglitten ist. Man kann Gott los sein, Gott verneinen und sich dennoch nach Gott sehnen.
Jesus jedenfalls hat die Menschen eingeladen zum Gebet, damals, als er Abschied nahm von seinen Jüngerinnen und Jüngern. Jesus nimmt Abschied. Sie kennen ja solche Abschiedssituationen: Da steht man am Flughafen oder Bahnhof und soll sich trennen. Und man überlegt verzweifelt, was man dem anderen noch sagen will. Was ist jetzt wichtig? Und wie kriegt man das in die passenden Worte? „Zieh dich warm an", „Pass auf dich auf, ein letztes „Ich liebe dich" vielleicht? Ganz besonders wichtig sind solche Augenblicke, wenn es ein Abschied für lange oder gar für immer ist.
Im Johannesevangelium wird ausführlich erzählt, was Jesus seinen Jüngern mit auf den Weg gibt. Die Abschiedsfeier neigt sich dem Ende zu. Gleich wird Jesus noch für seine Jünger beten, dann werden sie hinausgehen in die Nacht, sein Sterben ist nahe. Jesus kommt von Gott und geht nun zu ihm zurück. Lange hat er ihnen in Bildern und Gleichnissen erklärt, was kommen wird; nun ist es Zeit, zum Ende zu kommen. Sie sollen sich an seinen Vater wenden im Gebet, wenn er nicht mehr da ist. Ja, sie werden Angst haben in dieser kalten Welt und er wird sie nicht mehr ermutigen und trösten können.
Aber Jesus hinterlässt ihnen etwas, was ihnen helfen soll: Er lädt sie ein zu einem neuen, zu einem ganz anderen Beten, aber nicht als Aufforderung. Vielleicht denkt Jesus an diese tiefe menschliche Sehnsucht nach Begegnung. Ich lese es Ihnen vor:
Amen, ich versichere euch: Der Vater wird euch dann alles geben, worum ihr ihn bittet, weil ihr es in meinem Namen tut und euch auf mich beruft. 24 Bisher habt ihr nichts in meinem Namen erbeten. Bittet, und ihr werdet es bekommen, damit eure Freude vollkommen und ungetrübt ist.«
25 »Ich habe euch dies alles in Andeutungen gesagt, die euch rätselhaft erscheinen müssen. Die Stunde kommt, dass ich nicht mehr in Rätseln zu euch rede, sondern offen und unverhüllt zu euch über den Vater spreche. 26 Dann werdet ihr ihn unter Berufung auf mich bitten. Ich sage aber nicht, dass ich dann den Vater für euch bitten werde; 27 denn der Vater liebt euch. Er liebt euch, weil ihr mich liebt und nicht daran zweifelt, dass ich von Gott gekommen bin. 28 Ich bin vom Vater in die Welt gekommen. Jetzt verlasse ich die Welt wieder und gehe zum Vater.« 33 Dies alles habe ich euch gesagt, damit ihr in meinem Frieden geborgen seid. In der Welt wird man euch hart zusetzen, aber verliert nicht den Mut: Ich habe die Welt besiegt!«
Soweit Jesu Vermächtnis. Das Neue liegt in der Betonung des Bittens „in meinem Namen", wie Jesus sagt. Beten im Namen Jesu heißt vielmehr, mein Leben und Jesus miteinander ins Gespräch zu bringen. Ich riskiere Jesus in meinem Leben. Ich nehme die Einladung zur Begegnung an und lasse ihn hereinreden in mein gewöhnliches Leben, in meine gewohnten Fragen und ich nehme es hin, dass es sich dadurch verändert.
Einige Beispiele: Vielleicht habe ich viel Angst in meinem Leben - um meinen Erfolg, um meine Arbeit. Da kann es sein, dass Jesus mir hereinredet und sagt: „Schau dir mal die Vögel unterm Himmel an, die säen nicht und ernten nicht, und unser himmlischer Vater ernährt sie doch". Und ich fange an zu fragen, was wirklich nötig ist zum Leben, und meine Bitten verändern sich.
Vielleicht kann ich mich in einer wichtigen Frage einfach nicht entscheiden. Ich zögere und überlege und bin ängstlich. Da kann es sein, dass Jesus mir hereinredet und sagt: „Fürchte dich nicht, ich bin bei dir alle Tage bis ans Ende der Welt, trau dich doch einfach" - und ich fange an zu fragen, was ich noch brauche, um mich fallen lassen zu können?
Vielleicht genieße ich mein Glück und meinen Reichtum und bin dankbar dafür. Trotzdem überlege ich bei jedem Bettler, ob ich ihm etwas geben soll oder nicht. Da kann es sein, dass Jesus mir hereinredet und sagt: „Sieh den Menschen dahinter, bleib im Gespräch" - und ich fange an zu fragen, wofür ich mein Geld nutzen will - vielleicht wird ein „gebet" aus meinem „Gebet", und mein Danken wird menschenfreundlicher und echter. Beten im Namen Jesu heißt, dass ich anfange, sein Leben mit meinem Leben zusammen zu sprechen.
Dann ist Gebet vielleicht nicht so sehr die Frage, wie man seine Wünsche erfüllt bekommt, sondern wie man miteinander in Verbindung bleibt, ja, wie man in Verbindung bleibt mit sich selbst, mit den Menschen und mit Gott. Gebet bindet uns zusammen. Beten ist Begegnung, ist ein einfaches und ehrliches Gespräch mit Gott.
Ein letzter Gedanke: Erstaunlicherweise muss man nicht einmal fest an Gott glauben, um beten zu können. Ganz im Gegenteil: Das Gebet kann auch helfen, wenn ich meine, längst fertig zu sein mit dem Glauben und mit Gott.
Sie glauben mir das nicht? Ich war vor einiger Zeit bei einer Beerdigung, in der ein so genannter „freier Redner" sprach, weil die Familie aus der Kirche ausgetreten war. Es war eine gute und einfühlsame Ansprache. Aber dann plötzlich betete dieser Redner am Ende ein Vaterunser. Ich fand es übergriffig, dass der Redner jetzt dieses Gebet Jesu sprach, wo er doch bis dahin Gott bewusst ausgeklammert hatte.
Und doch glaube ich, dass dieser Redner recht hatte: Das Gebet ist offen für alle, für Zweifler und Gegner, für Gute und Schlechte, für Gläubige und für solche, die sich selbst als gottlos bezeichnen würden. Das Gebet ist nicht der Besitz der Jünger Jesu, es gehört allen Menschen, die es gerade brauchen.
Vielleicht hatte Jesus deshalb so viele so genannte Gottlose zu Freunden: die Ehebrecherin, Zöllner, Sünder. Jesus hat das Gespräch mit ihnen begonnen, ohne erst ihren Glauben zu prüfen, und sie haben ihn hereinreden lassen in ihr Leben, weil sie bei Jesus die wunderbare Liebe spürten, die zwar nicht alles gutheißt, die aber doch keinen Menschen aufgibt. Wenn wir uns den Himmel verschlossen haben, stößt er die Tür wieder weit auf.
Jesus trägt mein Gebet, nicht ich. Ich muss nichts tun oder glauben oder beweisen, sondern ich kann mich auf Jesus berufen und meine Ängste und Sorgen, auch meine Zweifel; hinter seinem Namen verstecken. Er wird's gut machen, nicht ich. Das heißt Beten in Jesu Namen.
Ich möchte mit einer kurzen Geschichte schliessen:
Ein schlimmer Abend
Um fünf Uhr ist der Krankenwagen abgefahren. Zwei Krankenpfleger haben Hans-Joachims Mutter auf einer Bahre hineingeschoben. Ganz blass lag sie darauf, teilnahmslos, so als bemerkte sie überhaupt nichts von dem, was um sie herum und mit ihr geschah.
Hans-Joachim stand an der Haustür und sah zu, wie die Bahre in den Wagen hineingeschoben wurde. Ein Pfleger verschloss die Tür, und der Vater setzte sich zu den beiden auf den Vordersitz.
Eine Tür klappte. Der Motor heulte auf. Dann verschwand der Krankenwagen in der Masse der vorbeifahrenden Autos.
Um halb sieben kam der Vater nach Hause. Er setzte sich an den Küchentisch, stützte den Kopf auf seinen Arm und stierte vor sich hin. Joachim blieb an der Tür stehen. Er brauchte lange für jedes Wort. Aber er musste einfach die Frage stellen. „Weißt du etwas Näheres?"
Der Vater gab keine Antwort. Er starrte an ihm vorbei, als ob er ihn nicht sehen würde. Minuten verrannen. Unbeweglich stand Hans-Joachim an der Tür.
Dann packte er den Griff und öffnete sie leise. Er schob sich hinaus und ließ die Tür hinter sich leicht zuschnappen.
Er rannte in sein Zimmer und warf sich auf das Bett. Er drückte den Kopf tief in das Kissen und weinte.
Als er nicht mehr weinen konnte, als nur noch ein dicker Kloß in seinem Hals saß und ihm tief drinnen alles wehtat, richtete er sich im Bett auf. Draußen war es dunkel geworden. Die Neonlampen des Radiogeschäfts von gegenüber warfen einen blau-violetten Schein in sein Zimmer. Lange Zeit saß Hans-Joachim teilnahmslos und fast regungslos auf seinem Bett. Dann faltete er die Hände und betete: „Lieber Gott, hilf meiner Mutti! Lieber Gott, hilf meinem Vati und mir! Amen."
Dann brachen die Tränen wieder aus ihm heraus. Viel später ging Hans-Joachim wieder in die Küche. Sein Vater hatte ihm das Abendbrot auf seinen Platz gestellt: Zwei Wurstbrote und ein
Glas Limonade. Als er sich setzen wollte, nahm ihn der Vater in seine Arme und drückte ihn ganz fest. Er sagte: „Morgen früh, bevor du zur Schule musst, rufen wir im Krankenhaus an." Amen.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus Amen.
Es gibt eine Seite mit den alten Losungsandachten:
https://evangelisch-neuss-sued.de/gottesdienste/beten-zuhause