Predigt am 13.S.n.Tr. über 3. Mose 19, 1-3.13-18.33.34
(25.8.2024; Auferstehungskirche, Thema: Heilig sein?)
Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen
Liebe Gemeinde!
Heute möchte ich gerne mal mit einer ganzen Reihe an Fragen an Sie und Euch starten: Wann haben Sie oder hast Du das letzte Mal jemand aus deiner Verwandtschaft unfreundlich behandelt? Kannst Du, können Sie sich erinnern, wann sie gegen die eigenen Eltern unfreundlich waren? Haben Sie nicht letzten Sonntag das Wohnzimmer gesaugt oder den Wagen gewaschen? Haben Sie, hast Du immer deine Putzfrau, den Gärtner etc. fair bezahlt? Hast du, haben Sie noch nie etwas Gemeines oder Böses über jemanden gesagt? Habt Ihr, haben Sie nicht auch schon mal einem Anderen Hindernisse in den Weg gelegt, damit er oder sie sich ärgert? War bei allen Steuererklärungen immer alles korrekt? Sind Sie, bist Du nicht mit dem Auto letztens auch zu schnell gefahren? Hast du, haben Sie schon mal das große Bedürfnis nach Rache gehabt? Oder habt ihr haben Sie nach einem Streit den Ärger heruntergeschluckt anstatt ihn zu klären? Würde ich Mohammed Özmiroglu genauso viel Grundvertrauen entgegenbringen können wie Hans-Josef Schmitz?
Ich bin mir ganz sicher, dass wir nicht bei allen Punkten peinlich weggucken müssen. Aber höchstwahrscheinlich sind doch einige Punkte dabei gewesen, bei denen wir uns innerlich ertappt gefühlt haben. Nun, dann ist ja der Predigttext aus dem 3. Buch Mose genau richtig. Dort steht:
Der HERR sagte zu Mose: »Richte der ganzen Gemeinde Israel aus, was ich ihr zu sagen habe: ›Ihr sollt heilig sein; denn ich, der HERR, euer Gott, bin heilig. Jeder soll seine Mutter und seinen Vater ehren und den wöchentlichen Ruhetag, meinen Sabbat, beachten. Ich bin der HERR, euer Gott!
Erpresst und beraubt nicht eure Mitmenschen. Wenn jemand um Tageslohn für euch arbeitet, dann zahlt ihm seinen Lohn noch am selben Tag aus. Sagt nichts Böses über einen Tauben, der es nicht hören und sich nicht wehren kann, und legt einem Blinden keinen Knüppel in den Weg. Nehmt meine Weisungen ernst: Ich bin der HERR! Wenn ihr einen Rechtsfall zu entscheiden habt, dann haltet euch streng an das Recht. Bevorzugt weder den Armen und Schutzlosen noch den Reichen und Mächtigen. Wenn ihr als Richter über einen Mitmenschen das Urteil sprecht, darf allein die Gerechtigkeit den Maßstab abgeben. Verbreitet keine Verleumdungen über eure Mitmenschen. Sucht niemand dadurch aus dem Weg zu schaffen, dass ihr vor Gericht falsche Anschuldigungen gegen ihn vorbringt. Ich bin der HERR! Wenn du etwas gegen deinen Bruder oder deine Schwester hast, dann trage deinen Groll nicht mit dir herum. Rede offen mit ihnen darüber, sonst machst du dich schuldig. Räche dich nicht an deinem Mitmenschen und trage niemand etwas nach. Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst. Ich bin der HERR!‹
Unterdrückt nicht die Fremden, die bei euch im Land leben, sondern behandelt sie genau wie euresgleichen. Jeder von euch soll seinen fremden Mitbürger lieben wie sich selbst. Denkt daran, dass auch ihr in Ägypten Fremde gewesen seid. Ich bin der HERR, euer Gott!
Und nun? Ein bisschen ertappt fühlen wir uns wohl alle. Und das sind nur ein kleiner Bruchteil aller Regeln und Gesetze. Nach der jüdischen Überlieferung erhält Mose am Berg Sinai von Gott nicht nur die zehn Gebote, sondern viele weitere Bestimmungen – insgesamt 613 Gebote und Verbote. Alleine wenn ich die alle vorlesen würde, würden Sie und würdet ihr euch schwer überlegen, den nächsten Gottesdienst von mir noch mal zu besuchen. Und nun?
Oder ziehen wir uns als Christen und Christinnen darauf zurück, dass das ja nur im Alten Testament gilt. Mit Jesus ist ja alles anders geworden. Komisch, mir fällt da gerade ein Wort Jesu ein, wo er sagt: „Du siehst den Splitter im Auge deines Nachbarn, aber den Balken in deinem eigenen Auge siehst du nicht.“ Anscheinend ist es auch Jesus nicht egal, wie wir uns verhalten. Regeln gelten auch für uns!
Und was ist, wenn ich Mist gemacht habe? Ein sehr aktuelles Beispiel erhitzte jetzt die Gemüter: Steven van de Velde ging zusammen mit seinem Spielpartner im Beachvolleyball bei Olympia in Paris für die Niederlande auf Medaillenjagd. Doch der 29-Jährige sorgte schon Wochen vor Beginn der Wettbewerbe für Gesprächsstoff. Denn van den Velde ist ein verurteilter Vergewaltiger einer Minderjährigen. Mit 19 Jahren reiste er nach England und vergewaltigte ein zwölfjähriges Mädchen. 2016 wurde er zu vier Jahren Gefängnisstrafe verurteilt, nachdem er im August 2014 die Vergewaltigung zugegeben hatte. Bereits nach zwölf Monaten wurde er wieder aus der Haft entlassen. Überall, wo Steven van de Velde bei Olympia auftrat, wurde er von vielen Menschen mit Buhrufen und Pfiffen empfangen. Er selbst bezeichnet die tat als den größten Fehler seines Lebens.
Verschissen und vorbei oder gilt auch für ihn, dass er bitter bezahlt hat, dass er bereut? Ist Gnade für ihn richtig oder schlicht billig?
„Du siehst den Splitter im Auge deines Nachbarn, aber den Balken in deinem eigenen Auge siehst du nicht.“
Wir urteilen oft sehr schnell und wir verurteilen schnell. Ich glaube, damit sollten wir sehr vorsichtig sein. Wer mit dem Finger auf andere zeigt, muss sich im Klaren sein, dass drei Finger auf sich selbst zeigen. Das bedeutet nicht, dass wir dem oder der anderen nicht sagen sollten, dass wir sein Verhalten falsch finden. Im Gegenteil.
Mein Fazit: Bemühen wir uns selbst um ein eigenes gutes Handeln und hoffen wir gemeinsam mit den anderen Schuldigen auf die Gnade Gottes. Und hören wir auf, mit dem Finger auf andere zu zeigen.
Schließen möchte ich mit einer nachdenklich machenden Geschichte von dem Auto Heinz Rein:
Der Milchdieb
Wir Kinder verbrachten, wie immer, unsere Ferien bei unserem Großvater. Er besaß einen schönen Hof im Ermland und war ein großer Mann mit fröhlichen Augen und buschigen Brauen. Er liebte uns, aber er konnte auch sehr sehr streng mit uns sein, und wir gehorchten ihm aufs Wort.
Ich weiß es noch wie heute. An einem vernebelten Morgen setzte sich der Großvater nicht wie sonst mit Behagen an den Frühstückstisch, sondern blieb am Fenster stehen, sah auf die Stallungen und runzelte die Stirn. Dann sagte er mit heiserer Stimme: „Heute Nacht hat jemand die Kuh Fiene abgemolken." Fiene war Großvaters beste Milchkuh. Das habe es noch nie gegeben, sagte die Großmutter bekümmert, Diebe im Stall. Ob sonst noch etwas fehle? Großvater verneinte. Es sei vielleicht doch ratsam, ein richtiges Schloss für den Stall zu kaufen, sagte die Großmutter. Wir wussten, Großvater war kein Freund vom Kaufen, und er antwortete nicht. Erst als er sein Frühstück beendet hatte, sagte er, und es klang wie eine unumstößliche Entscheidung, es sei noch nie üblich gewesen, den Stall abzuschließen. Der Holzriegel habe bisher noch immer genügt, und er werde auch in Zukunft genügen. Die Großmutter widersprach nicht, sie wiegte nur bedenklich den Kopf hin und her und sah uns Kinder an, als erwarte sie Unterstützung von uns. Wir sagten aber nichts, Großvaters Wort galt, auch wenn wir, Kinder der Großstadt, es komisch fanden, daß Stall und Haus nur durch Klinken, die keine Sicherheit boten, geschlossen wurden. Der Vorfall wäre von uns sicherlich rasch vergessen worden, aber er wiederholte sich. Fiene stand stumm am nächsten Morgen mit leerem Euter im Stall, aber sonst fehlte nichts, obwohl im Stall manche Dinge aufbewahrt wurden, die im nächsten oder übernächsten Dorf für gutes Geld an den Mann zu bringen gewesen wären. Nicht einmal ein Eimer fehlte, der Milchdieb brachte sich also ein Gefäß mit; Großvater ging während des ganzen Tages mit einem nachdenklichen Gesicht umher, offenbar rang er mit einem Entschluss, aber er zog niemanden zu Rate. Als aber am nächsten Morgen die Fiene wieder abgemolken war, bevor die Magd oder der Großvater den Stall am frühen Morgen betraten, sagte der Großvater entschlossen: „Heute Nacht werde ich Wache halten. Sonst kommen die mir noch auf den Kopf." Die, das war die Behörde, an welche die Milch abgeliefert werden musste. Der Abend kam, die Nacht brach herein. Als die Großmutter mich zu Bett schicken wollte, fragte ich, ob ich, der Älteste, nicht mitmachen dürfte. Großvater zögerte mit der Antwort, dann sagte er ja, er werde mich um zwei Uhr wecken. Ich bat, gleich aufbleiben zu dürfen, aber Großvater sah mich nur an, und ich ging in die Schlafstube hinauf, mit vielen Zweifeln, ob der Großvater mich wirklich dabeihaben wollte. Ich versuchte, wach zu bleiben, aber schließlich schlief ich doch ein.
Pünktlich um zwei weckte mich der Großvater. Ob ich denn nun wirklich .. . Statt einer Antwort sprang ich aus dem Bett und kleidete mich an. Dann gingen wir hinunter auf den Hof.
Es war eine klare Nacht mit vielen Sternen und recht hell, obwohl der Mond noch nicht aufgegangen war. Ein frischer Wind ging und rauschte in den Kronen der vier Eichen, die im Hofe standen und sich hoch und dunkel gegen den Himmel abzeichneten. Ich schlich gebückt, wie ich es in den Indianerbüchern gelesen hatte, durch das tauige Gras, während Großvater ganz gelassen aufrecht schritt. Im Stall befühlte Großvater die Euter der Kühe. Sie waren alle noch prall. Dann setzten wir uns in eine dunkle Ecke. Großvater rauchte seine halblange Pfeife, eine Hand hatte er auf mein Knie gelegt. Weshalb er denn seinen Tesching, sein Gewehr, nicht mitgenommen habe, wollte ich wissen, vielleicht würde der Dieb, wenn er dann entdeckt werde ... Weiter kam ich nicht. „Hier gibt es keine Mörder und Einbrecher", sagte der Großvater ein bisschen aufgebracht, „aber eine ganze Menge armer Leute. Was soll mir da ein Gewehr? Kann ich Armut mit einem Gewehr erschießen?"
Ich schwieg beschämt. Die Zeit verging sehr langsam, jedes Geräusch erregte mich. Wenn draußen die Kronen der Bäume im Winde knarrten oder eine Kuh an der Kette rasselte oder eine Fledermaus aufflog, stand ich sofort auf und lauschte mit offenem Munde, als schärfte das mein Gehör. Großvater blieb ruhig sitzen und rauchte. Ihm waren alle Geräusche vertraut.
Aber dann, der Mond war aufgekommen, nahm Großvater die Pfeife plötzlich aus dem Munde, legte sie auf den Futterkasten und streckte den Kopf vor. Ja, nun hörte ich es auch. Das Geräusch kam von jenem Fenster her, das dem Hofe abgewandt war; es ließ sich nicht mehr fest schließen, weil der Rahmen morsch war. Zuerst sah ich eine Hand, die einen Eimer hielt. Der Eimer wurde niedergesetzt, dann erschien eine zweite Hand, die sich an die Fenstermauer klammerte, und dann ... Ja, dann konnte ich nichts mehr sehen, denn Großvater verstellte mir die Sicht. Ich wollte an das Fenster, aber Großvater verwies mich gebieterisch auf meine Bank, nahm den Eimer, warf ihn aus dem Fenster und kletterte rasch hinaus. Ich saß, gewohnt zu gehorchen, auf der Bank, und hätte doch so gern den Dieb mit ergriffen. So konnte ich nur lauschen. Ich hörte Großvaters Stimme, er sprach nicht laut, aber sehr entschieden, und dann weinte jemand.
Ich hätte nun wenigstens gern erfahren, wer der Milchdieb war, kannte ich doch alle Leute aus dem Dorf, aber Großvater schwieg, als er wieder in den Stall kam, er schwieg auch, als wir in das Haus zurückgingen. Er überhörte meine Fragen. Er hat es mir nie gesagt, und ich weiß bis heute nicht, wer damals die Fiene ein paarmal abgemolken hat. „Es genügt, wenn ich es weiß", so wies mich der Großvater ab, und ich glaube, er tat recht daran.
Unnachsichtig und erbarmungslos wie Kinder sind, hätte ich wahrscheinlich alles weitererzählt und immer einen Groll gegen einen armen Menschen, der zum Milchdieb geworden war, mit mir herumgetragen. Amen.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus Amen.
Es gibt eine Seite mit den alten Losungsandachten:
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