Narrative Predigt an Karfreitag über Matthäus 27, 33-54
(Thema: Hat Gott Jesus im Stich gelassen?)
Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen
Liebe Gemeinde!
Karfreitag. Erinnerung an Jesu Kreuzigung. Dem Spott der Leute ausgesetzt erlitt der Sohn Gottes um unseretwillen den qualvollen Tod. Im Bedenken dieses Kreuzestodes kommen Zweifel auf. War es wirklich Gottes Wille? Und vielleicht sogar ein Gedanke: Hat Gott Jesus nicht im Stich gelassen?
Als Predigt folgen wir heute zwei Menschen, die genau diese Gedanken gehabt haben. Priska und Levi - Geschwister, in die Zeit Jesu versetzt - teilen diese Erfahrung in der Predigt-Erzählung.
33 So kamen sie an die Stelle, die Golgota heißt, das bedeutet »Schädelplatz«. 34 Dort gaben sie Jesus Wein mit einem Zusatz, der bitter war wie Galle; aber als er davon gekostet hatte, wollte er ihn nicht trinken. 35 Sie nagelten ihn ans Kreuz und losten dann untereinander seine Kleider aus. 36 Danach setzten sie sich hin und bewachten ihn. 37 Über seinem Kopf hatten sie ein Schild angebracht, auf dem der Grund für seine Hinrichtung geschrieben stand: »Dies ist Jesus, der König der Juden!« 38 Mit Jesus zusammen wurden zwei Verbrecher gekreuzigt, einer rechts und einer links von ihm. 39 Die Leute, die vorbeikamen, schüttelten den Kopf und verhöhnten Jesus: 40 »Du wolltest den Tempel niederreißen und in drei Tagen wieder aufbauen! Wenn du Gottes Sohn bist, dann befrei dich doch und komm herunter vom Kreuz!« 41 Genauso machten sich die führenden Priester und die Gesetzeslehrer und Ratsältesten über Jesus lustig. 42 »Anderen hat er geholfen«, spotteten sie, »aber sich selbst kann er nicht helfen! Wenn er der König von Israel ist, soll er vom Kreuz herunterkommen, dann werden wir ihm glauben. 43 Er hat doch auf Gott vertraut; der soll ihm jetzt helfen, wenn ihm etwas an ihm liegt. Er hat ja behauptet: ›Ich bin Gottes Sohn.‹« 44 Genauso beschimpften ihn auch die beiden Verbrecher, die zusammen mit ihm gekreuzigt worden waren.
45 Um zwölf Uhr mittags verfinsterte sich der Himmel über dem ganzen Land. Das dauerte bis um drei Uhr. 46 Gegen drei Uhr schrie Jesus: »Eli, eli, lema sabachtani?« – das heißt: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« 47 Einige von denen, die dabeistanden und es hörten, sagten: »Der ruft nach Elija!« 48 Einer lief schnell nach einem Schwamm, tauchte ihn in Essig, steckte ihn auf eine Stange und wollte Jesus trinken lassen. 49 Aber die anderen riefen: »Lass das! Wir wollen sehen, ob Elija kommt und ihm hilft.« 50 Doch Jesus schrie noch einmal laut auf und starb. 51 Da zerriss der Vorhang vor dem Allerheiligsten im Tempel von oben bis unten. Die Erde bebte, Felsen spalteten sich 52 und Gräber brachen auf. Viele Tote aus dem Volk Gottes[4] wurden auferweckt 53 und verließen ihre Gräber. Später, als Jesus vom Tod auferweckt worden war, kamen sie in die Heilige Stadt und wurden dort von vielen Leuten gesehen. 54 Als der römische Hauptmann und die Soldaten, die Jesus bewachten, das Erdbeben und alles andere miterlebten, erschraken sie sehr und sagten: »Er war wirklich Gottes Sohn!«
Das Zimmer ist dunkel.
"Ach, hier bist du!"
Priska steht noch in der Tür. Nur wenig Licht fällt durch die Tür hinein. Sie sieht zu ihrem Bruder Levi hinüber. In der Ecke sitzt er. Sein Blick geht nirgendwo hin.
"Ich habe dich überall gesucht! Plötzlich habe ich dich nicht mehr gesehen ... Sag doch was!"
Seit dem Tode seiner Frau vor drei Jahren kümmert sie sich um ihn. Sie macht die Tür zu und lehnt sich an den Rahmen. Sie weiß genau, was los ist. Sie waren dabei. Das Urteil über Jesus. Kreuzigung! Und warum?! Und dann all das andere, was sie mit ansehen mussten ...
"Sag doch was, Levi."
"Was soll ich noch sagen? Du hast es ja gesehen. Und gehört."
Levi sieht gar nicht zu ihr hin. Ja, sie hat gesehen und gehört, was mit Jesus geschah. Und das war so hart, so unglaublich hart! Wie gern würde sie jetzt die Bilder und die Stimmen verdrängen. Aber sie haben sich tief in sie eingegraben. Alles ist noch ganz da. Und sie muss es ausspucken.
"Ja, du hast recht. Es ist furchtbar. Wie einen Verbrecher haben sie ihn behandelt... Und dann - ich denke, ich sehe nicht recht! Hast du das mitgekriegt? Sie haben ihm was zu trinken gegeben, ich dachte: Wenigstens geben sie ihm Wein, damit er die Schmerzen ein bißchen besser ertragen kann. Aber es war genau zu sehen, dass sie Jesus irgendetwas gegeben haben, was abscheulich schmecken musste! Die haben sich ihren Spaß mit ihm gemacht, und auch die andern Leute haben sich über ihn lustig gemacht, sogar die Hohenpriester und die Ältesten waren dabei: Andern hat er geholfen, für sich selbst ist er zu schwach. Komm doch runter! Wenn Gott ihn mag, soll der ihm doch helfen'! Ich stand nicht weit weg, ich konnte das hören. Die haben gelacht und wollten, dass Jesus ihnen beweist, dass Gott zu ihm hält! Und wenn er das nicht kann, dann ist die Sache für sie klar. Das war sie doch sowieso schon. Die wollten doch gar nicht sehen, wen sie da gekreuzigt haben! Was sind das für Menschen? Aber du hast das ja selbst mitgekriegt, nicht wahr? Ich war so aufgebracht, so verzweifelt und wütend, aber ich konnte nichts machen!"
Ganz aufgeregt klingt ihre Stimme, zittrig. Priska setzt sich hin. Einen Moment muß sie schweigen. Beide sind still.
"Und dann habe ich mich nach dir umgesehen, aber ich konnte dich nirgends entdecken. Wo warst du?"
Und endlich macht auch Levi den Mund auf.
"Ich bin abgehauen."
Stockend, und immer wieder durch Pausen unterbrochen, spricht er weiter.
"Als ich das mitgekriegt habe, wie sie sich über Jesus am Kreuz lustig gemacht haben und ich sehen musste, wie er litt und nichts gegen diese Leute und gegen sein Leiden tun konnte oder wollte - ich weiß es nicht -, da konnte ich das nicht mehr aushalten. Ich bin einfach weggerannt. Ich habe mich hierhin verzogen und wollte keinen sehen. Jetzt sitze ich schon den ganzen Tag hier. Ich konnte nicht mehr klar denken, immer noch dreht sich mir alles im Kopf. Das kann doch nicht sein! Das ist sicher nur ein Traum! Das kann doch nicht mit Jesus passieren, was hier geschieht! Warum lässt Gott das zu?"
Das ist schon alles, was er jetzt sagen kann. Stumm sitzt er da. Guckt durch seine Schwester Priska hindurch. Er sieht sie nicht, weil ihm etwas Anderes vor Augen ist. Er erinnert sich wieder daran, wie schrecklich das war: Jesus am Kreuz. Hilflos, wehrlos. Dem Spott der Leute ausgesetzt. Ohnmächtig. Jesus - der, der ihm soviel Kraft gegeben hat! Der Sohn Gottes! Und was war nun? Alles nur geträumt ... ? Alles weg, worauf er sein Leben aufbauen konnte?
Und auf einmal kriecht das seit einiger Zeit so gut weggepackte Gefühl wieder in ihm hoch. Die Kehle schnürt sich ihm zu, der Magen zieht sich zusammen. Das Herz klopft bis in den Hals. Er muss trocken schlucken. Die Zunge klebt ihm am Gaumen. Er macht das jetzt noch mal durch, dieses Erlebnis von damals, als seine Frau krank war. Keiner konnte was tun für sie. Er hätte ihr so gern geholfen. Sie hatte es schwer. Aber er konnte nichts machen. Er fühlte sich ohnmächtig. Das war so hart. Nie wieder wollte er so was durchstehen müssen. Daran musste er heute wieder denken. So ohnmächtig, wie Jesus am Kreuz. So fühlte er sich. Und nun ging es dem, durch den er wieder neue Kraft gespürt hatte, genauso! Durch ihn, durch seine Predigt von Gott und durch seine vollmächtigen Taten, hatte alles wieder einen Sinn bekommen! Und jetzt war doch wieder alles vorbei! Jetzt ist auch er tot.
Muss denn der Tod so unbarmherzig sein und die Menschen holen, die man so sehr braucht? Erst seine Frau und dann auch noch Jesus, und das, obwohl er Gottes Sohn ist? Ist denn auf nichts Verlass? Gibt es denn keinen Halt, auf den man sicher bauen kann? Muss man sich immer geduckt halten, weil man damit rechnen muss, dass einem sowieso wieder genommen wird, was man so bitter nötig hat und womit man wieder Lebensmut kriegt? Und wo bleibt da Gott?
Und mit dieser Trauer steigen auch Zweifel in ihm auf: Was, wenn die Spötter Recht haben? Wenn Gott Jesus tatsächlich im Stich gelassen ... Nein, das darf nicht sein! Diesen Gedanken will er sich nicht erlauben.
Sein Gesicht spricht Bände. Jedenfalls für Priska, die ihn schon zu gut kennt, als dass ihr etwas entginge.
"Sag, was los ist mit dir!"
Obwohl er den Gedanken nicht denken will, wird er doch ganz von ihm in Besitz genommen, und er muss es sagen:
"Was ist, wenn die Spötter Recht haben, Priska? Gott hat nicht geholfen, er war nicht da! So wie damals, du weißt ja, als sie starb. Nun ist Jesus auch tot. Alles ist aus!"
Nun war es raus. Jetzt sitzen beide da wie gelähmt. So einen Gedanken fassen ist das eine, aber ihn auch auszusprechen, das ist etwas anderes. Das gibt ihm noch mehr Raum, irgendwie noch mehr Gewicht. Und das will Levi ja eigentlich gar nicht, das kann auch Priska nicht hören. "Alles ist aus ..." Das bohrt sich in den Kopf. Und die ganze Aufregung und die Wut, aber auch die Trauer und Ohnmacht, die sie in den letzten Stunden gefühlt haben, mischen sich wieder zusammen und rauben beiden die Kraft. Schweigend blicken beide vor sich hin. Eine lange Zeit scheint es, als sei das Gespräch zwischen ihnen auch gestorben.
Im Schweigen ziehen die Erinnerungen an die Worte Jesu und an das, was sie über seine Taten gehört haben, durch Priskas Gedanken. Das ist ganz lebendig vor ihren Augen, was da war. Wie gut tat das, was sie über Gott und darüber, wie sie ihr Leben leben können, von Jesus hörten. Er gab ihnen Kraft und Sinn! Und die Menschen, die er heilte! Weiche Hoffnung löste das in ihnen.
Und während sie lange Zeit still daran denkt, beruhigt sie sich etwas. Sie kann wieder klarer denken. Und auf einmal keimt so eine Sicherheit in ihr auf, die ihr klar macht: "Das kann nicht alles umsonst gewesen sein. Es ist nicht alles zu Ende!" Und sie muss das ihrem Bruder Levi sagen.
"Levi, ich habe nachgedacht. Ich verstehe es auch nicht, wieso das so gekommen ist. Warum Jesus ans Kreuz musste und aushalten musste bis zum Tod. Es ist grausam, ich wollte, es wäre anders. Jetzt ist er weg. So viele Menschen haben ihm zugehört und haben einen neuen Weg für ihr Leben gefunden. Und wir ja auch! Weißt du noch, wie er sagte, dass wir Gott lieben sollen und den Nächsten wie uns selbst? Weißt du, das ist ja das wichtigste! Und er hat überall wunderbar Leben geheilt. Für den, der an ihn glaubte, gab es keine Aussichtslosigkeit bei ihm, sondern neue Hoffnung. Was rede ich, das hast du ja selber erlebt. Du warst ein ganz neuer Mensch, warst wie ausgewechselt, so voller Lebensmut, als du von der Predigt und den Taten Jesu hörtest und ihn jetzt auch selbst gesehen und gehört hast."
"Ja, Priska, so ist es gewesen. Aber nun ist das zu Ende. Oder etwa nicht? Wenn er nicht mehr lebt, kann er nicht mehr helfen. Gott hat ihn verlassen und uns auch. So einfach ist das. Oder siehst du das etwa anders?"
Levi klingt verbittert, so sehr schmerzt ihn der Tod Jesu.
„Ich glaube einfach nicht, daß es so ist, wie du denkst. Ich glaube nicht, dass Gott das einfach so mit angesehen hat. Hast du nicht auch davon gehört, was die andern sagen? Jesus hat schon vor seinem Tod davon gesprochen, dass er leiden und sterben wird. Erinnerst du dich noch, was über diese Sache in Betanien gesagt wird? Eine Frau hat Jesus mit einer ganzen Flasche Salböl übergossen, alle haben sich furchtbar aufgeregt: Soviel teures Öl! Aber Jesus hat sie gelobt und sagte, sie habe ihn schon im vorhinein für sein Begräbnis gesalbt. Er hat gewusst, dass er gekreuzigt wird! Es musste so kommen, von Gott her. Warum - das kann ich nicht begreifen. Aber ich glaube, irgendetwas will Gott damit zeigen. Und ich bin sicher, Gott hat uns was gezeigt, aber anders, als wir das erwartet haben... Diese Dunkelheit, und dann das Erdbeben, als Jesus starb... Da war Gott. Und dann, da warst du schon weg, ist da noch etwas passiert: Die Soldaten, die Jesus am Kreuz bewachten und auch der Hauptmann, die waren ganz verändert, als sie das alles miterlebt hatten. Ich habe gehört, dass der Hauptmann gesagt haben soll: Dieser ist wahrlich Gottes Sohn!' Jetzt haben sie es zugegeben! Jetzt haben sie es endlich erkannt: Jesus ist Gottes Sohn. Und sogar die Wachen konnten es erleben: Gott hat seinen Sohn nicht verlassen, auch wenn er stirbt!"
Priska ist über ihre eigenen Worte erstaunt. Aber irgendwie ist ihr diese Gewissheit zugewachsen. Ihr ist klar geworden, dass es mit dem Tod Jesu so kommen musste. Auch wenn sie nicht verstehen kann, warum. Aber sie zweifelt nicht daran, dass Gott sich zu Jesus bekannt und ihn auch im Tod nicht allein gelassen hat.
Levi hat sie die ganze Zeit über angesehen. So ergriffen redet Priska nur, wenn sie über etwas unumstößlich sicher ist. Und die Bitterkeit löst sich in ihm.
"Ich möchte glauben, dass du Recht hast."
"Ja, Levi, ich bin gewiss. Und es wird nicht das letzte von Gott sein, das uns tröstet. Wir müssen uns an ihn halten und ihm vertrauen. Gott hat Jesus nicht verlassen, obwohl es in unseren Augen zuerst so aussah. Und wir müssen nicht denken, dass alles aus ist. Wir müssen die Hoffnung behalten, dass es weitergeht. Auch wenn wir noch nicht wissen, wie. Aber wir werden es sehen."
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus Amen.